Spinnst du?
Ob in Köln oder München, in Hamburg oder Berlin. Ob in Brandenburg oder in der Eifel: Wer regelmäßig im Berufsverkehr steckt oder gelegentlich in einen Wochenendstau gerät, mag nicht glauben, daß das Automobil, das vor gerade mal hundert Jahren unsere Straßen eroberte, auch wieder aus unserem Alltag verschwinden kann. Angesichts der vielen Fahrzeuge, die wir täglich sehen und hören, parkend oder fahrend, angesichts der Blechkarawanen in Schöner-Wohnen-Gegenden und Arbeitslosenvierteln, angesichts der vielen Stunden, die wir, Selbst- oder Beifahrer, in Autos verbringen, angesichts der Allgegenwart unserer fahrbaren Untersätze mag die These, das Auto sei ein Auslaufmodell, ziemlich kühn klingen. Die Autoindustrie ist in einer schweren Krise sein, aber warum soll der Absatz nicht wieder steigen? Wie auch die Benzinpreise mal fallen und dann wieder neue Höchstwerte erzielen? Auch ich habe mich, während ich dieses Buch schrieb, mehrfach gefragt: Spinnst du? Auto war gestern? Von wegen!
Wer als Fußgänger jene urbanen Unorte wie den Raschplatz in Hannover oder den Österreichischen Platz in Stuttgart aufsucht, wo es 24 Stunden lang an 365 Tagen im Jahr brummt, rauscht und röhrt, wird das Auto für eine böse Macht halten, die nicht zu besiegen ist und die auch niemand ernsthaft bekämpfen will. Seltsam unwirtlich sind diese Unter- und Überführungen, diese mehrspurigen und doppelstöckigen Straßen in unseren Innenstädten, doch scheint sich kaum jemand darüber zu beschweren. Oder doch? Der Verkehr definiert unser Gefühl städtischer Normalität. In Science-Fiction-Filmen werden, um die Apokalypse oder den siegreichen Angriff der Außerirdischen zu verbildlichen, Straßen ohne Autos gezeigt. Wir haben uns an den Lärm und den Gestank, an die Dominanz der automobilen Geschwindigkeit und die ästhetischen Zumutungen der Verkehrsplanung gewöhnt, und wir wundern uns, wenn draußen vor der Tür mal keine Hupe oder kein Reifenquietschen zu hören ist, wenn ausnahmsweise kein Fahrzeug durch die verkehrsberuhigte Zone rast. Tatsächlich?
Chinesische Firmen stehen in dem Ruf, Know-how zu klauen und Produkte zu kopieren. Was die Verkehrspolitik angeht, müssen sie nun selbst kreativ werden, weil die Situation in den meisten chinesischen Städten katastrophal ist. Die Straßen in Peking und Shanghai sind zu jeder Tageszeit so überfüllt, daß es keine Seltenheit ist, etliche Stunden im Stau zu stehen. Zu meiner ersten Lesung in Shanghai bin ich deshalb auch zu Fuß gegangen. Gut zwei Stunden hat der Spaziergang durch den Smog gedauert. Damit war ich – wenn auch atemwegsgeschädigt – pünktlich vor Ort. Und obwohl ich während der Lesung ständig husten mußte, war ich doch froh, mich nicht in ein Taxi gesetzt zu haben. Ein guter Freund, der nicht weit vom Veranstaltungsort wohnte, steckte im Stau und tauchte erst auf, als die Lesung vorbei war. Auf den Gedanken, aus dem Wagen zu steigen und loszulaufen, war er auch wegen der miserablen Luftverhältnisse nicht gekommen.
Es waren bestimmt Geschäftsleute, die sich über den Dauerstau und den Dauersmog in chinesischen Großstädten beschwert und die Kader davon überzeugt haben, daß etwas geschehen muß. Wie viele Millionendeals in China wohl schon geplatzt sind, weil die Verhandlungspartner im Verkehr steckengeblieben sind? Im autoritären Staat lassen sich solche Probleme freilich leichter lösen als in einer westlichen Demokratie. Eine besonders lustige Maßnahme in Peking lautet: An bestimmten Tagen werden auf den Straßen nur Autos mit geraden Kennzeichen, an anderen Tagen nur Autos mit ungeraden Kennzeichen erlaubt. Es gibt sicherlich ein paar ganz besonders schlaue und reiche Chinesen, die sich einen Zweitwagen mit passendem Nummernschild zulegen, doch die Maßnahme funktioniert – die Straßen sind leerer, die Luft ein wenig besser. Die Menschen sind sogar einverstanden mit den alternierenden Fahrverboten. Hierzulande gäbe es, wenn sich denn eine Bundesregierung zu solchen Einschränkungen durchringen würde, täglich Demonstrationen, noch mehr Demokratieverdrossenheit und schon bald ein Urteil vom Verfassungsgericht, das (wahrscheinlich zu Recht) feststellte, Verkehrspolitik nach chinesischem Vorbild sei grundgesetzwidrig.
Wie lange wollen wir warten? Bis die Luft auch in Berlin und Köln so schlecht ist wie in Peking und Shanghai? Bis die Verkehrsmeldungen im Radio überflüssig werden, weil es auf allen Straßen Dauerstau gibt? Bis ein neues Benzinpreishoch die Autobahnen endgültig leert, weil dann nur wenige Glückliche das nötige Kleingeld haben, um den Sprit zu bezahlen? Möglich wäre das. Doch es ist furchtbar teutonisch, sich solche apokalyptischen Szenarien weiter auszumalen. Warum sich nicht gleich damit beschäftigen, wie es besser laufen könnte? Auch ohne chinesische Zwangsmaßnahmen. Der Lateiner weiß: „Tempora mutantur“. Eigentlich erstaunlich, daß wir Deutschen es nicht mögen, wenn sich die Zeiten ändern. Dabei gibt es nirgendwo in der Welt so viele Leute mit Latinum wie in Deutschland. Wobei die wenigsten wissen, daß der Spruch einen zweiten Teil hat: „Tempora mutantur, nos et mutamur in illis.“ Die Zeiten ändern sich, und wir ändern uns mit ihnen. Zu ergänzen wäre: Die einen brauchen länger, sich auf Änderungen einzustellen, die anderen sind beweglicher.
Noch kommt es auf die Perspektive an. Wer sich grundsätzlich nicht an Geschwindigkeitsbegrenzungen hält, wer sich um Parkverbote nicht schert, wem die Umwelt gleichgültig, das Klima im Wagen aber wichtig ist, wer die nötigen Finanzreserven in Liechtenstein oder unterm Kopfkissen lagert, wird nicht merken, daß sich unser Verständnis von Mobilität langsam wandelt. Wer sich für den Wandel interessiert, stellt fest, daß er erstaunlich rasant verläuft. Wer jetzt einen Wagen mit Hybrid-Antrieb kauft, wird bald feststellen, daß auch diese Fahrzeuge nur Übergangsmodelle sind.
Techniker schwärmen längst vom Automobil der Zukunft, das in jeder Hinsicht auto ist: Die Energie produzieren diese Fahrzeuge selbst, und auch die Steuerung werden diese rollenden Roboter übernehmen. An jeder Ecke wird ein solcher Robo stehen und darauf warten, einen Passagier mitzunehmen. Der Robo-Besitz wäre überflüssig. In diesen gar nicht so fernen Zeiten ist die Organisation des Verkehrs die Aufgabe von Riesenrechnern. Es wird im Normalbetrieb, wenn also die Festplatten und Arbeitsspeicher vor Viren und Systemabstürzen geschützt sind, weder Staus noch Unfälle geben. Wahrheit oder Wunschmusik von Autofuturologen, die endlich beweisen wollen, daß ihr Gehalt gerechtfertigt ist?
Nicht nur Berufsvisionäre reden den Wandel herbei. Auch im Bekanntenkreis ändert sich der Blick aufs Auto. Wobei manche Meinungsumschwünge etwas mühsam sind. Immer häufiger habe ich mit ehemals begeisterten Autofahrern zu tun, die ihre Karre zum Kauf anbieten und die, wie immer bei solchen Bekehrten, mit einer etwas aufdringlichen Anti-Auto-Mission durchs Land fahrradeln. Vielleicht ließe sich der Wandel wissenschaftlich belegen, vielleicht können Ökonomen, Ökologen, Soziologen und Psychologen das wachsende Unbehagen am Automobil erklären oder aber auch genau das Gegenteil beweisen, daß sich nämlich an unserer Art und Weise, wie wir uns fortbewegen, in den nächsten Jahren doch nichts ändern wird. Auf einen solchen Streit unter Experten möchte ich mich nicht einlassen. Ich bin kein Experte. Statistiken interessieren mich nur am Rande. Zumal die Daten sich ohnehin ständig ändern und die Auslegung der Zahlen Ansichtssache bzw. eine Frage der Anstellung ist.
Ich möchte in diesem Buch von meinem Leben ohne Führerschein erzählen, um zu zeigen, wie lustig, angenehm, aber auch wie anstrengend und bekloppt es ist. Wie abhängig wir uns alle vom Auto gemacht haben. Natürlich habe ich oft daran gedacht, trotz allem einen Führerschein zu machen. In Goodbye Auto berichte ich von meinen Selbstzweifeln und davon, wie glücklich mich der langsame Abschied von allen Traumautos und Autoträumen macht. Den Wankelmütigen will ich mit auf den Weg geben: Kein Problem, auch ohne Führerschein läßt sich der Alltag bewältigen, läßt es sich prima reisen – wohin man auch will, man kommt tatsächlich an.
Während ich den Text schreibe, liegt meine wenige Wochen alte Tochter neben mir im Stubenwagen. Sie schaut mich mit weit geöffneten Augen an, als wollte sie fragen: „Papa, warum kannst du nicht Auto fahren?“ Mein Gefühl sagt mir, daß ich ihr diese Frage in zehn, fünfzehn Jahren nicht mehr beantworten muß. Weil Führerschein und Autobesitz dann nicht mehr zur obligatorischen Ausstattung eines Erwachsenen gehören. Weil sich bürgerliche Identität nicht mehr über die Wahl der richtigen Automarke, sondern eher darüber definiert, welche Klimabilanz man in seiner mobilen Vergangenheit und Gegenwart vorzuweisen hat.